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Zugang zu kolonialen Tonarchiven

Artikel von Irene Hilden, Jasmin Mahazi und Mèhèza Kalibani, auf https://sammeln.hypotheses.org/2748 ,01 Dez. 2021

[Originally in: English]

Accessing Colonial Sound Archives: For a Plurality of Interpretations (Zugang zu kolonialen Tonarchiven: Für eine Vielzahl von Interpretationen).

In Berlin entstanden zwei Tonarchive unter kolonialer Schirmherrschaft und waren Teil des kolonialen Projekts: das Lautarchiv an der Humboldt-Universität, die den Klang umfasst, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem im Herzen der deutschen Hauptstadt produziert wurde, und den Phonogramm-Archiv im Berliner Ethnologischen Museum, mit Stimmen, die in den Kolonialgebieten aufgenommen und von Reisenden oder Ethnologen in die Metropole gebracht wurden. Im Laufe der Jahre haben diese Sammlungen zur Erhaltung der kolonialen Macht- und Wissensstrukturen beigetragen. Als eine Möglichkeit, sich mit solchen Stimmen zu beschäftigen, diskutieren wir mögliche Herangehensweisen an akustische Vermächtnisse und reflektieren die Potentiale und Grenzen des Umgangs mit sensiblem Tonmaterial. Indem wir die institutionelle Geschichte der kolonialen Tonsammlungen erläutern und uns auf zwei besondere Aufnahmen konzentrieren, sprechen wir die doppelte Sensibilität historischer Audioquellen an. Wir möchten Fragen zur Politik des Zugangs und der Präsentation von sensiblem Tonmaterial aufwerfen und argumentieren für eine Vielzahl von Interpretationen von kolonialen Tonarchiven.

 

Afrikanische Stimmen in der Lautarchiv

Wie wir sprechen, wird im späten 2021 der Lautarchiv befindet sich in einem Zustand der Vorahnung: Bisher war es an der Humboldt-Universität untergebracht, nun soll es in das hoch umstrittene Humboldt-Forum umziehen. Die Entscheidung, das Archiv von der Universität in das so genannte Forum zu verlegen, bleibt ambivalent. Auf der einen Seite ist das Lautarchiv hat in den letzten Jahrzehnten unter begrenzten finanziellen und personellen Ressourcen gelitten, was dazu führte, dass der Zugang von der Höflichkeit der zuständigen Mitarbeiter abhängig war. Die Umsiedlung gab Hoffnung, dass der Ruf nach dauerhafter ethischer Fürsorge und einer nachhaltigen Zukunft für die Bestände des Archivs endlich erfüllt werden würde. On the other hand, it is still unclear to what extent the archive?s collections will be accessible to international research communities in the future. Will (future) collaborations with various stakeholders also play a central role, beyond the mere exhibiting of the archive at the Humboldt Forum? In Anbetracht der vielen Unbekannten-white Stimmen im Archiv, wäre dies sehr wünschenswert.

Abspielen einer Schellack-Aufnahme im Lautarchiv mit einem modernen Plattenspieler. Die Nadel muss regelmäßig gewechselt werden, um Abrieb zu vermeiden. Foto: Irene Hilden

Der Kern des Archivs besteht aus mehr als 7,000 Original-Schellackplatten und Duplikaten, die Musik und Sprache enthalten, die zwischen 1909 und 1944 aufgenommen wurden.[1] Eine der ältesten und umfangreichsten Archivsammlungen der USA. Lautarchiv heute sind es 1,651 Aufnahmen, die während des Ersten Weltkriegs von Mitgliedern der ehemaligen Königlich Preußischen Phonographischen Kommission (Königlich Preußische Phonographische Kommission). Die Kommission wurde Ende 1915 gegründet, um Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen in deutschen Internierungslagern für linguistische und phonetische, musikwissenschaftliche und anthropologische Zwecke zusammenzustellen. Unter den Soldaten und zivilen Internierten waren viele Menschen aus den Kolonien, die für die britische und französische Armee gekämpft hatten, aber auch einige, die seit Kriegsbeginn auf deutschem Boden geblieben waren. Für einige der Kommissionsmitglieder waren die Stimmen der Nicht-Kriegsgefangenen wichtig.white Menschen von besonderem Interesse waren. Nicht nur, dass ihre Forschung von kolonialen Ideen zur Rettung von Anthropologie und Exotik getrieben wurde, es bedeutete auch, dass sie kostspielige Forschungsreisen sparen und die Kriegssituation nutzen konnten, um ihre Agenda durch das Sammeln von Tonaufnahmen zu verfolgen.

Nach dem Krieg wurden die Schellack-Aufzeichnungen Teil der neu gegründeten Tonabteilung der Preußischen Staatsbibliothek (Lautabteilung). Während die sogenannten Kriegsaufnahmen die Grundlage für die Bestände der Abteilung bildeten, bestand eines ihrer neuen Ziele darin, systematisch eine Sammlung deutscher Dialekte zusammenzustellen. Obwohl es nicht mehr zentral für die Aktivitäten der Abteilung war, zeichneten Forscher gelegentlich noch nicht-deutsche Sprachen auf. Das Archiv enthält z.B. akustische Zeugnisse von Nicht-Sprachen.white Diplomaten und Akademiker[2] die das post-imperiale Berlin besuchten, oder von nicht-imperialen Personen.white Künstler, die in den sogenannten sogenannten "Galerien" ausgestellt/involviert waren Völkerschauen [3].

Anfang der 1930er Jahre wurden die Tonsammlungen erneut übertragen, diesmal an die Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin (heute Humboldt-Universität). Von 1934 bis heute befanden sich die Archivbestände im Institut für Schallforschung (Institut für Lautforschung), die von dem Afrikanisten Diedrich Westermann geleitet wurde. Während seiner Amtszeit zeichneten Mitglieder des Instituts die Sprachen auf, die von den afrikanischen Sprachlehrern der Universität gesprochen wurden, wie Suaheli und Ewe. Die neu belebten kolonialen Bestrebungen unter dem Naziregime bedeuteten, dass Studenten, die in den Kolonialdienst eintreten wollten, afrikanische Sprachen lernen sollten, wofür afrikanische Lehrer rekrutiert wurden.

Bayume Mohamed Hussein, Deutscher Kolonialismus und das Naziregime

Die Stimme des Swahili-Sprachassistenten Bayume Mohamed Hussein (oder Husen)[4] Daten aus dieser Zeit. Die Geschichte seines Lebens (und Todes) ist ein mächtiges, außergewöhnliches, aber auch herzzerreißendes Beispiel für die gewalttätigen Auswirkungen der deutschen Kolonialverwicklungen.[5] Hussein wurde 1904 als Mahjub bin Adam Mohamed geboren und als Kindersoldat während des Ersten Weltkriegs in der Kolonie Deutsch-Ostafrika (heute Tansania, Ruanda und Burundi) eingezogen. Ende der 1920er Jahre kam er nach Deutschland und forderte ausstehende Zahlungen für seinen und den Dienst seines verstorbenen Vaters in der Armee. Nachdem das Auswärtige Amt seine Forderung ablehnte, begann Hussein als Waiter und Schauspieler in der exotisierenden Unterhaltungsindustrie Berlins zu arbeiten. Hesein war auch als Sprachassistent an der Berliner Universität tätig, wo er prospektive Kolonialverwalter, Offiziere und Händler ausbildete.

Während seiner Zeit in der deutschen Hauptstadt erlebte Hussein ständig Rassendiskriminierung und sollte den vorherrschenden Rassismus, der im repressiven Nazi-Staat existierte, letztendlich nicht überleben. Da er enge Beziehungen mit Hussein unterhielt, konnte er sich nicht auf die Suche nach einer Lösung machen. white Frauen, die Gestapo verhaftete ihn 1941 ohne Gerichtsverfahren. Nach drei Jahren Haft im Konzentrationslager wurde er inhaftiert. Sachsenhausenwurde er im November 1944 von den Nazis getötet. Im Jahr 2007 wurde ein Stolperstein ? Stolperstein ? wurde vor der letzten Residenz seiner Familie im Jahr 2000 eingeweiht. Brunnenstraße in Berlin. Es war der erste Gedenkstein für ein schwarzes Opfer des Naziterrors und der Verfolgung seit Beginn dieses dezentralisierten Gedenkprojekts.

Warum kollektives Hören?

Husseins Stimme wurde 1934 aufgenommen. In dieser Aufnahme liest Hussein einen Text in Swahili vor. Heute ist diese Aufnahme eine wichtige, aber auch zweideutige Spur eines Kolonialsubjekts in der Metropole. Kompetent, weil sie als materieller und akustischer Ausdruck einer schwarzen Person erscheint, die in Berlin lebt und arbeitet. Mehrdeutig, da diese kraftvolle Aufnahme in einer Institution der hegemonialen Kolonialmacht produziert und archiviert wurde, d.h. der Universität, und da das Hören seiner Stimme eine ergreifende, aber auch unsettling Erfahrung sein kann.

Der Workshop zum Thema "Akademisches Schweigen" wurde von Irene Hilden und Jasmin Mahazi an der Humboldt-Universität zu Berlin im Jahr 2019 organisiert. Foto: Artur Gerke

Zwei Autoren dieses Artikels, Irene und Jasmin, wollten sich mit Husseins Aufzeichnungskollektiv beschäftigen, wobei sie sich um die Frage drehten, wie die postkoloniale Zukunft des Landes aussehen könnte. Lautarchiv wie aussehen? Also organisierten wir ein Workshop als Teil von Irene?s umfassender Forschung über die Lautarchiv?s Kolonialsammlungen.[6] Um verschiedene Interpretationen dieser Aufnahme zu ermöglichen, luden wir mehrere Swahili-Sprecher ein, darunter Spezialisten für Swahili-Studien und Mitglieder der Swahili-German Diaspora. Das Ziel bestand darin, einen Akt epistemischer Gewalt nicht zu wiederholen, indem eine exklusive Macht über die Interpretation aufrechterhalten wird. Der Workshop erleichterte die gemeinschaftliche, sensible und affektive Auseinandersetzung mit dieser historischen Quelle und brachte verschiedene Expertisen, Perspektiven und Positionen zusammen.

Macht und Gefahr des Klangs: die doppelte Sensitivität mündlicher kolonialer Quellen

Sound kann nicht ohne den Gebrauch von Strom klingen....
(Walter J. Ong) [7]

Wenn man eine Tonaufnahme aus der Kolonialzeit abspielt, besteht immer die Gefahr der Reproduktion von Gewalt, da die Aufnahme mit dem Gewicht von Rassenhierarchie, Ungerechtigkeit und Machtbeziehungen belastet ist.

Während unseres Workshops zum kollektiven Hören waren die Zuhörer stark von Husseins Stimme betroffen, die in den Raum drang. Für uns Hörer klang es nach Verzweiflung, Distanziertheit, Zögern, Selbstbewusstsein, Unsicherheit und Unpersönlichkeit. Wir stimmten zu, dass Hussein einen Text vorlesen musste, mit dem er sich nicht identifizieren konnte. Der Akt der Aufzeichnung, so schien es, war das Produkt von Ungerechtigkeit und Injunction.

Tonaufnahmen aus der Kolonialzeit sind sensible historische Objekte, nicht nur wegen des unfairen/ungerechten Kontextes der Aufnahme, sondern auch wegen des Inhalts der Audios? Bayume Hussein las vertrauliche Informationen über Heiratspraktiken und Bräuche bei Hochzeiten aus. Gemäß der Kultur der Swahili sind einige dieser Informationen sogar zu intim, um öffentlich geteilt zu werden. Die Workshopteilnehmer waren der Meinung, dass dieser Inhalt von einer weiblichen Informantin stammen muss und teilten die Ansicht, dass solche Worte nur von einer Frau unter Frauen ausgesprochen werden sollten.[8] Der Klang dieser intimen Details erzeugte auch ein Gefühl des Schamgefühls unter den Swahili-sozialisierten Zuhörern, vor allem in einer gemischten Geschlechtergruppe.

Dieser sensible Aspekt der Aufzeichnung kann jedoch nicht auf eine strikte Geschlechtertrennung oder auf die Schnittmenge von religiösen und geschlechtergerechten Moralvorstellungen reduziert werden. Um ihn zu verstehen, muss man sich mit bestimmten Arten der sozialen Interaktion im Swahili-Kontext auseinandersetzen. Embodied encounters implizieren, dass man beide Seiten ernsthaft in Betracht zieht. heshima (Ehre/Respekt) und sitara (bescheidene Verheimlichung), wobei letzteres so verstanden wird, dass es etwas Intimes vor der Enthüllung vor einem urteilenden Publikum schützt und es vor Schande bewahrt.ona haya) in einem mehr ?öffentlichen?[9]. Diese Beschreibungen von intimen Hochzeitspraktiken, die durch Husseins Stimme vermittelt wurden, wurden von den Workshopteilnehmern einstimmig als gewaltsames Eindringen in die Swahili-Kultur identifiziert. Unter Berücksichtigung sowohl des Inhalts als auch der Art und Weise, wie diese Aufnahme ein System der kolonialen Wissensproduktion fortsetzte, kamen die Teilnehmer zu dem Schluss, dass Bayume Husseins Aufnahme aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs einen starken Einfluss auf den Inhalt hatte. Lautarchiv sollte nicht abgespielt werden.

Koloniale Aufzeichnungen in Berlin Phonogramm-Archiv

The Lautarchiv ist nicht das einzige Archiv in Berlin, in dem sensible Tonaufnahmen aus kolonialen Kontexten gefunden werden können. Einige der an der Produktion des Archivs beteiligten Gelehrten haben sich mit der Frage beschäftigt, wie man das Archiv am besten nutzen kann. Lautarchiv hatte bereits erste Erfahrungen gesammelt, als er Aufnahmen für den Berliner Rundfunk machte. Phonogramm-Archivein weiteres Tonarchiv, das Anfang der 20er Jahre gegründet wurde.th Jahrhundert.[10] In der Tat ist die Lautarchiv kann als ?Tochter? der Phonogramm-ArchivDas Museum, das auch Aufzeichnungen aus deutschen Kriegsgefangenenlagern während des Ersten Weltkriegs enthält, nämlich 1,022 Waxzylinder mit Musikaufnahmen, die von der Royal Prussian Phonographic Commission. Insgesamt ist die Phonogramm-Archiv besteht aus fast 17.000 Wax-Cylinder-Tonaufnahmen, die zwischen 1893 und 1954 produziert wurden. Viele davon wurden in den deutschen Kolonien von Ethnologen und Kolonialbeamten erstellt.

 

Wachszylinder Waldow Kamerun 6? in seinem Gehäuse. Foto: Berlin Phonogramm-Archiv

Eine Aufnahme aus dem Phonogramm-Archivmit dem Label Waldow Kamerun 6? enthüllt weitere Probleme im Zusammenhang mit der Sensibilität von und dem Zugang zu kolonialen Tonarchiven. Diese historische Quelle, die mehrere Stimmen enthält, wurde im Februar 1907 von Hans Waldow in Lolodorf in der Kolonie Deutsch-Kamerun aufgenommen, der zu dieser Zeit Chefarzt des Victoria Hospitals war. Die Aufnahme beginnt mit einer Ankündigung von Waldow selbst:

Togoisches Lied, gesungen von zwei Togoern in Lolodorf. Aufgenommen von Doctor Waldow. Das Lied lautet: "Wir sind nicht viele, aber wir können tun, was wir wollen; die Antennen sind klein, aber sie können beißen...".[11]

Es folgen die Stimmen der beiden Togolesinnen. Sie singen ein Lied in der Ewe-Sprache, die heute in den westafrikanischen Ländern Togo, Benin und Ghana gesprochen wird.

Listening to this recording, several aspects can stand un un scrutiny: one may for instance focus on the announcer and his biography (Hans Waldow), on the history of migration of Ewe-speaking people from Togo to Cameroon, on Ewe language (e.g. maxims and proverbs in this song), on musicality (melody and rhythm), on the recording context (German colonial history in Cameroon and colonial knowledge production), or on the politics of memory (how can one experience or revisit the past). Je nach Thema sind verschiedene Herangehensweisen möglich: ?auditive Anthropologie?[12]?close listening?[13]Archival silences as historical sources?[14]?listening to history?[15]und last but not least, ?kollektives Hören?[16].

Da Hören in der Tat eine aktive und keine passive Praxis ist, implizieren alle diese Ansätze eine Ethik, insbesondere wenn es um koloniale Kontexte geht. Die Praxis des kollektiven Hörens erwies sich als ein möglicher Weg, die Politik des Hörens zu überdenken und Wissen zu produzieren.[17]. Sie ermöglicht es uns, über die Vergangenheit zu lernen, aber auch Wissen in der Gegenwart zu generieren. Wie bereits erwähnt, sollten Tonaufnahmen aus kolonialen Kontexten immer mit Vorsicht behandelt werden, da diese Tonproben die Hörer an die rassistische und koloniale Unterdrückung erinnern können, die ihre Vorfahren zu erdulden hatten und daher die Sensibilität der Menschen verletzen können. Sie sind sogar anfällig für die Reproduktion rassistischer Stereotypen. Einige der aufgezeichneten und archivierten Inhalte sollten natürlich nur zu ganz besonderen Anlässen gespielt werden, von bestimmten Sängern vorgetragen und von bestimmten Zuhörern gehört werden, wie im Fall von Husseins Aufzeichnung. Ewe Lieder und Sprichwörter sind ebenfalls in soziale und rituelle Praktiken eingebettet. Diese Aufnahmen zwingen uns, unterschiedliche Wissenstraditionen, Epistemologien und Konzepte der sozialen Interaktion zu berücksichtigen und eine Rückkehr zu aktuellen politischen und sozialen Themen wie Rassismus zu vollziehen. Um die Wunden der kolonialen Unterdrückung zu heilen, der hegemonialen Verharmlosung dieses Wissens entgegenzuwirken und die postkoloniale "epistemische Ungerechtigkeit" zu bekämpfen, müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie wir das Wissen der Kolonialherren in die Praxis umsetzen können.[18]Eine Ethik des Zuhörens bedeutet, eine integrativere Sphäre zu schaffen, in der verschiedene Hörer interagieren können, wobei sie Grenzen wie Rasse, Geschlecht und wissenschaftliche Autorität tiefgreifend berücksichtigen, aber auch einbeziehen.

 Kollektive Eigentümerschaft und die Politik des Zugangs

Da wir uns für eine Vielzahl von Interpretationen von Tonaufnahmen aus kolonialen Kontexten einsetzen, um ihre unterschiedlichen Bedeutungen und Verständnisse zu entfalten, bedeutet dies auch, dass die Politik des Zugangs und der Präsentation bei der Kuratierung dieser Sammlungen neu überdacht werden muss. Angesichts der aktuellen Debatten über Kolonialgeschichte und ihre Vermächtnisse ist es an der Zeit, dass europäische Tonarchive diese aufgezeichneten Körper des Wissens mit den Menschen und Institutionen ihrer Herkunftskulturen teilen. Klarerweise war Bayume Hussein nie wirklich der Besitzer seiner eigenen Stimme, wenn er über Hochzeitspraktiken las. Aber wer kümmert sich heute um seine Stimme? Können wir von "kollektivem Eigentum" sprechen, genauso wie wir von "kollektivem Hören" sprechen? Man könnte argumentieren, dass Tonaufnahmen - selbst wenn sie in kolonialen Kontexten entstanden sind - zu den Institutionen gehören, in denen sie produziert wurden, nämlich der Lautarchiv und die Phonogramm-Archiv. Was jedoch aus unserer Forschung klar geworden ist, ist, dass wenn man die Stimme des Sprechers oder Sängers als Teil ihres Körpers betrachtet, wenn man sich mit den kolonialen Machtverhältnissen befasst, unter denen diese Stimmen aufgezeichnet wurden, dann gehören diese Aufzeichnungen diesen Sprechern und Sängern und somit ihren Nachkommen. Im Falle der so genannten Waldow-Aufnahme würde dies die Menschen von Lolodorf in Kamerun und die Menschen von Aného in Togo bedeuten.

Warum also nicht diese Tonaufnahmen als "gemeinsames Erbe" betrachten? Nicht in der Logik, den unrechtmäßigen Besitz von kulturellen Artefakten zu rechtfertigen.[19]sondern als ein geteiltes Erbe, das symbolisch und physisch wirklich geteilt werden kann, und folgt damit Felwine Sarr und Bénédicte Savoy?s Vision einer neuen Beziehungsethik.[20]. In der Praxis bedeutet dies, sowohl gemeinsame Forschung als auch gemeinsam kuratierte, gemeinsam geschaffene Wissensräume zu erleichtern, die nicht nur die verschlungenen Geschichten dieser kolonialen Tonaufnahmen erzählen, sondern auch einen Dialog über Traditionen und Epistemologien hinweg ermöglichen, indem man einander zuhört und voneinander lernt.[21]

Anerkennungen

Dieser Artikel ist das Ergebnis einer gemeinsamen Podiumsdiskussion im Rahmen des Workshops. Kolonialsammlungen in Berliner Universitäten an der Technischen Universität Berlin. Wir danken Yann LeGall und Malina Lauterbach für die Organisation des Workshops und die Einladung, diesen Artikel zu schreiben. Ihre wertvollen Kommentare und das Editing des Textes waren äußerst hilfreich. Unser Dank geht auch an Sarah Elena Link für ihre redaktionelle Arbeit.

Autoren

Irene Hilden ist eine Postdoctoral Research Fellow an der Universität von Kalifornien. Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage (Zentrum für anthropologische Forschung zu Museen und Kulturerbe) (CARMAH) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschung befasst sich mit der kolonialen Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands, transnationalen Mobilitäten und den uneinheitlichen Strukturen kolonialer Verflechtungen im Laufe der Geschichte.

Mèhèza Kalibani ist eine PhD-Kandidatin an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften. Institut für Didaktik der Geschichte und Public History, Universität Tübingen. Sein PhD-Projekt befasst sich mit frühen Tonaufnahmen aus dem Berliner Phonogramm-Archiv, die er als akustisches Erbe des deutschen Kolonialismus untersucht.

Jasmin Mahazi ist eine DFG-geförderte Postdoctoral-Forscherin an der Universität Bonn. Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO), Berlin. Ihre Forschungsinteressen sind mündliche Archive und verkörperte Wissenspraktiken an der Swahili-Küste.

 

Referenzen

 

[1] Andere Archivobjekte der Lautarchiv umfassen Wachszylinder, Handelsaufzeichnungen, Aufzeichnungen aus Gelatine oder Acetat, Fotografien, phonetische Instrumente und Fachliteratur.

[2] Das prominenteste Beispiel ist wahrscheinlich eine Tonaufnahme, die 1921 von dem bengalischen Dichter, Schriftsteller und Philosophen Rabindranath Tagore (oder Thakur) gemacht wurde. Andere Beispiele sind die Aufnahmen des chinesischen Studenten Xiao Weixin (aufgenommen 1926) und des siamesischen Diplomaten Luang Bairai Bakya Bhakdi (aufgenommen 1927).

[3] See Irene Hilden: Die historischen Sammlungen des Berliner Lautarchivs. Zum Umgang mit akustischen Objekten. In: Ernst Seidl, Frank Steinheimer, Cornelia Weber (Hrsg.): Materielle Kultur in universitären und außeruniversitären Sammlungen, Gesellschaft für Universitätssammlungen e.V., Berlin, 2018, S. 45-52. https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/19229/07_hilden.pdf?sequence=1 (zuletzt abgerufen am 1. Dezember 2021) und Irene Hilden: Absente Presences in the Colonial Archive. Dealing with the Berlin Sound Archive?s Acoustic Legacies. Leuven University Press, Leuven, forthcoming.

[4] In der deutschen postkolonialen akademischen und öffentlichen Diskussion wird er immer noch oft Mohamed Husen? genannt, in freundlicher Anpassung an seine mehr oder weniger freiwillige Entscheidung, seine deutschen Zeitgenossen? an die Aussprache seines Spitznamens anzupassen. Es ist unsere Wahl, seinen Namen so zu verwenden, wie er in seiner Muttersprache und innerhalb seines Vaterlandes ausgesprochen wurde und wird.

[5] Weitere Literatur zu seiner Biografie finden Sie z.B. in Bastian Breiter: Der Weg des ?treuen Askari? ins Konzentrationslager. Die Lebensgeschichte des Mohamed Husen. In: Ulrich van der Heyden, Joachmin Zeller (Hrsg.): Kolonialmetropole Berlin, Berlin Edition, Berlin, 2002, S. 215-220; auch Eva Knopf: Die Suche nach Mohamed Husen im kolonialen Archiv. Ein unmögliches Projekt. In: Eva Knopf, Sophie Lembcke, Mara Recklies: Archive dekolonialisieren. Mediale und epistemische Transformationen in Kunst, Design und Film, Transkript, Bielefeld, 2018., S. 83-106; Marianne Bechhaus-Gerst: Treu bis in den Tod. Von Deutsch-Ostafrika nach Sachsenhausen? Eine Lebensgeschichte, Ch. Links, Berlin, 2007; Katharina Oguntoye: Eine afro-deutsche Geschichte: Zur Lebenssituation von Afrikanern und Afro-Deutschen in Deutschland von 1884 bis 1950, Hoho Verlag, Berlin, 1997.

[6] Irene Hilden?s Forschung untersucht nicht nur die Praktiken und historischen Figuren, die an der Herstellung von Tonaufnahmen beteiligt sind, sondern erforscht auch den epistemischen Rahmen des deutschen Kolonialwissensregimes und seiner Hinterlassenschaften.

[7]Walter J. Ong: Orality, Literacy, and Modern Media. In: David Crowley, Paul Heyer (Hrsg.): Communication in History. Technology Culture, Society, Longman, New York, 1999, S. 65.

[8] Mehr über die Rolle von Frauen innerhalb kolonialer Aufzeichnungspraktiken und Wissensproduktion finden Sie in Irene Hilden: Collective Listening. Tracing Colonial Sounds in Postcolonial Berlin. In: Kylie Crane, Sara Morais dos Santos Bruss, Lucy Gasser, Anna von Rath (Hrsg.): The Minor on the Move. Doing Cosmopolitanisms, edition assemblage, Münster, 2021, S. 210-213.

[9] See Paola Ivanov: Die Verkörperung der Welt? Ästhetik, Raum und Gesellschaft im islamischen Sansibar, Dietrich Reimer Verlag, Berlin, 2020.

[10] Der deutsche Arzt und Linguist Otto Dempwolff (1871-1938), der im April 1917 malaysisch sprechende Gefangene im deutschen POW-Lager in Berlin Ruhleben aufnahm, machte seine ersten Aufnahmen in den deutschen Kolonien zwischen 1906 und 1911.

[11] The original in German reads: ?Togolied, gesungen von zwei Togoleuten in Lolodorf. Aufgenommen von Dr. Waldow. Das Lied bedeutet: ?Wir sind nicht viele, aber wir können doch tun, was wir wollen; die Ameisen sind klein und sie beißen doch...?

[12] See Hein Schoer, Bernd Brabec de Mori, Matthias Lewy: The Sounding Museum. Towards an Auditory Anthropology. In: Soundscape. In: The Journal of Acoustic Ecology, 2014, 13, S. 5-21.

[13] Siehe Britta Lange: History and Emotion. The Potential of Laments for Historiography. In: Herbert Bley und Anorthe Kremers (Hrsg.): The World during the First World War, Klartext-Verlag, Essen, 2014, S. 371-376; und Anette Hoffmann: Introduction. Listening to Sound Archives. In: Social Dynamics. A journal of African Studies, 2015, 41 (1), S. 73-83.

[14] Siehe Britta Lange: Archival Silences as Historical Silences. Reconsidering Sound Recordings of Prisoners of War (1915?1918) from the Berlin Lautarchiv. In: Sound Effects. An Interdisciplinary Journal of Sound and Sound Experience, 2017, 7 (3), S. 47-60.

[15] See Daniel Morat, Thomas Blanck: Geschichte hören. Zum quellenkritischen Umgang mit historischen Tondokumenten. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 2015, 11/12, S. 703-726.

[16] See Irene Hilden: Collective Listening. Tracing Colonial Sounds in Postcolonial Berlin. In: Kylie Crane, Sara Morais dos Santos Bruss, Lucy Gasser, Anna von Rath (Hrsg.): The Minor on the Move. Doing Cosmopolitanisms, edition assemblage, Münster, 2021.

[17] Ebenda, S. 204-205.

[18] In ihrem Buch stellt Miranda Fricker nicht nur fest, dass "soziale Benachteiligung eine ungerechtfertigte epistemische Benachteiligung hervorrufen kann", sondern sie behauptet auch, dass "hermeneutische Ungerechtigkeit durch strukturelle Benachteiligung in der Wirtschaft der kollektiven Ressourcen verursacht wird". Miranda Fricker: Epistemische Ungerechtigkeit. Power and the Ethics of Knowing, Oxford University Press, 2011, S. 1-2.

[19]  See Kwame Opoku: Looted/Stolen Cultural Artefacts Declared ?Shared Heritage?, 2015. https://www.no-humboldt21.de/wp-content/uploads/2015/08/Opoku_SHARED_HERITAGE-4..pdf (zuletzt geändert am 1. Dezember 2021).

[20] Siehe Felwine Sarr, Bénédicte Savoy: The Restitution of African Cultural Heritage. Toward a New Relational Ethics, 2018Übersetzt von Drew S. Burk.  http://restitutionreport2018.com/sarr_savoy_en.pdf (zuletzt geändert am 1. Dezember 2021).

[21] Siehe z.B. Jasmin Mahazi?s aktuelles Forschungsprojekt: Bahari yetu (our ocean/our genre): A matrifocal anthropological study of oral archives and embodied knowledge practices along the Swahili coast. https://www.zmo.de/forschung/hauptforschungsprogramm/lebensalter-und-generation/jasmin-mahazi (zuletzt geändert am 1. Dezember 2021)

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